🕑 5:07 Min. | Von Barbara Römer | Zum Produkt
„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Es würde mich ganz und gar nicht wundern, hätte Tolstoi bei seinem berühmten ersten Satz in „Anna Karenina“ auch an Zahnpastatuben gedacht: Ein einziger Faktor, in diesem Fall eine chaotisch gequetschte Zahnpastatube, kann genügen, eine Familie ins Unglück zu stürzen …
Zugegeben, zu Tolstois Roman-Zeiten waren Tuben noch kein Thema – doch welche Nachgeborenen kennen nicht diese familiären Dramen, die sich rund um eine unkoordiniert ausgedrückte Tube abspielen können? Wer kennt nicht den Streit um die Art und Weise, wie man eine Tube am besten ausdrückt oder ausdrücken sollte? Wer hat nicht schon den inneren Monk gefühlt oder wenigstens von ihm gehört, der sich gequält windet, wenn er mitansehen muss, wie eine Tube rücksichtslos von der Mitte herausgequetscht wird? Wer kennt nicht das mühsame Schaben und Nachdrücken, um die im hinteren Teil der Tube zurückgebliebenen Reste von Senf oder Mayonnaise, von Ölfarbe oder Handcreme rückstandslos herauszuoperieren? Und wer hat noch nie vom ausufernden Beziehungsstreit gehört, der sich anfangs doch bloß um eine nachlässig behandelte Zahnpastatube drehte?
Zwei Lager. Ein Schlüssel
Denn die Geschichte der Tube ist keine Geschichte voller Missverständnisse, sie ist definitiv eine Geschichte zweier unterschiedlich gesinnter beziehungsweise praktizierender Lager. Seit 1841 der amerikanische Maler John Goffe Rand Tuben als Behältnis für Ölfarben patentieren ließ, ist es den einen Mitmenschen völlig gleichgültig, an welcher Stelle sie auf die Tube drücken – vorn, hinten, in der Mitte, Hauptsache, es kommt überhaupt etwas heraus. Dagegen leiden manche Mitbewohner*innen seelische Höllenqualen angesichts der ungleichmäßig gequetschten Tube, verfechten sie doch leidenschaftlich das gewissenhafte, lückenlose Ausdrücken vom Ende her. Und ich kann sie verstehen, diese leidenden Geschöpfe, ich fühle mit ihnen.
Nun wäre Mensch nicht Mensch, würde er nur Probleme machen, aber keine Lösungen suchen. Und finden. Und siehe da: Der Tubenschlüssel trat in die Welt und spielt seitdem in der Geschichte mit. Dieser geniale kleine Metallschlaufenhakendreher – oder wie auch immer wir ihn beschreiben wollen – wird am Ende der Tube eingehakt und erlaubt damit umgehend das saubere Aufrollen der Tube von hinten nach vorn und das sanft gleitende, restlose Ausdrücken der Tube. Ich will offen sein: Ich liebe dieses kleine Utensil. Nicht, weil ich mich als Retterin der Tuben dieser Welt sehe und sie nicht länger unter Quetschorgien leiden lassen möchte. Sondern weil ich aus der praktischen Erfahrung heraus von der Funktionalität dieses kleinen Pfiffikus überzeugt bin. Ich gehe sogar so weit, den Tubenschlüssel der Familie, Freund*innen und Bekannten anzupreisen, wenn sich die Gelegenheit bietet.
Der Praxistest
So waren vor einiger Zeit Freundinnen zu Besuch, ich hatte gekocht (ein waghalsiges Unterfangen, aber das steht auf einem anderen Blatt), wühlte in der Küchenschublade nach einer Kelle und traf dabei auf einen Tubenschlüssel. „Kennt ihr den?“, wandte ich mich den Freundinnen zu und hielt das kleine Utensil in die Höhe. Fragende Blicke. „Den Tubenschlüssel? Wollt ihr einen haben, ich hab’ noch zwei übrig, probiert doch mal aus, die sind wirklich praktisch und ich kann …“ Ich glaube, meine Stimme erstarb. Die beiden blickten weiterhin verständnislos, also holte ich Luft und aus zu einer längeren Erklärung. Ich fing zwar nicht mit Tolstoi an, doch das beziehungsgefährdende Elend des Tubenausdrückens habe ich beschrieben. Immerhin, die Freundinnen verstanden, worum es mir ging, und nahmen einen Tubenschlüssel mit, um ihn selbst auszuprobieren.
Bitte bedenken Sie im Folgenden, dass wir im Ruhrgebiet leben. Wir sprechen aus dem Ruhrpott-Herzen, nicht aus dem Grammatik-Duden heraus. Und so erhielt ich einige Tage später eine Sprachnachricht: „Ja, hei, hömma, kannst du mir mehr von diesen Aufrollerdingern besorgen? Der is ja super, B* findet den auch gut, ich schick dir n Foto, ist n bisschen blöd mit nur einem …“
Mission erfüllt. Krise abgewendet
Ein Praxistest mit einem weiteren glorreichen Sieg für den Tubenschlüssel. Warum nur weiß kaum jemand etwas von ihm? Aus der Reihe der Alltagsgegenstände, die in jedem Haushalt zu finden sind, ist er verschwunden. Und wenn Menschen ihm begegnen, ruft er allenfalls ein mildes, nachsichtiges Lächeln hervor. Das mag daran liegen, dass sich die Tuben verändert haben. Zu Beginn ihrer fast 200-jährigen Geschichte wurden sie aus Metall gefertigt, zunächst aus Zinn beziehungsweise Stanniol, seit Anfang des 20. Jahrhunderts aus Aluminium. In unseren modernen Zeiten aber erhält man überwiegend Tuben aus Kunststoff. Und nicht einmal der patente Tubenschlüssel vermag Kunststofftuben aus ihrer Not zu befreien, denn sie entfalten sich einfach wieder aus seinem Klammergriff. Aber Remoulade und Meerrettich, Wundsalbe und Klebstoff und viele pastöse Substanzen mehr werden weiterhin in Metalltuben vertrieben. Und wenn Sie eine glückliche Familie bleiben und eine Krise abwenden wollen, tja dann … ist der Tubenschlüssel vielleicht doch mehr als nur eine Überlegung wert.